Freitag, 3. Februar 2017

The Sandman: Grenzenlose Grundfragen


Neil Gaimans in ihrer Originalfassung 75 Einzelausgaben umspannende Comic-Reihe The Sandman, deren Genre-Ausrichtung man am ehesten mit "Dark Fantasy" umschreiben, der man aber als Leser, Repassierer und Fan am liebsten kein einzelnes verkopftes und schubladisierendes Genre zuordnen will, dürfte auch vielen Menschen ein Begriff sein, die sich nicht viel mit dem Medium Comic auseinandergesetzt haben. Auch meine Wenigkeit, die vor dem Anschaffen und Lesen von Gaimans grandioser Saga kaum Ahnung vom Thema hatte, hatte neben den aus dem Blockbuster-Kino bekannten Marvel- und DC-Helden und vielleicht noch dem auch filmisch stark präsenten Hellboy immer The Sandman mit im Hinterkopf, wenn ich an das Stichwort "Comics" dachte. Irgendetwas musste an diesem anscheinend sehr großen und auch sehr wichtigen Werk besonders sein, und diese Besonderheit faszinierte mich lange Jahre lang, auch wenn ich selten in Erwägung zog, mich wirklich mit der Reihe zu beschäftigen und somit ins Comic-Fach einzusteigen.
In meiner frühen Jugend las ich sehr gerne Terry Pratchetts Scheibenwelt-Romane - und ich meine damit nicht, dass ich einige von ihnen ganz cool fand, sondern ich las wirklich ausnahmslos alle Scheibenwelt-Romane, die verfügbar waren und wurde ein richtiger Fan von Pratchetts humoristischer und eigensinniger Schreibweise. Im Zusammenhang mit Pratchett kam ich auch auf Neil Gaiman, denn nachdem es keine Scheibenwelt-Romane für mich zu erkunden gab, bis irgendwann ein neuer rauskam, nahm ich mir den Kollaborations-Roman Good Omens vor. Und auch von diesem war ich entzückt, denn auch wenn er nicht auf meiner heißgeliebten Scheibenwelt spielte, so war er doch voll von dem wunderbaren Humor, den ich an Pratchett so schätzte, und obendrein schien dieser Neil Gaiman etwas Erwachseneres, aber doch nicht weniger Skurriles mit den in den altbekannten und altbewährten Pratchett-Mix zu packen. Nachfolgend las ich mehrere von Gaimans Romanen, und am liebsten gewann ich American Gods und Neverland, die für mich immer noch zwei grandiose Urban-Fantasy-Romane darstellen. Richtig angefixt wurde ich durch einen Re-Read von Gaimans märchenhaften Roman Stardust, der mich wieder einmal auf den Namen des berühmten Autors und somit auch indirekt auf sein anscheinend ja so herausragendes Comic-Werk stieß... Und dieses Mal nahm ich mir wirklich vor, The Sandman zu lesen, zumindest anzufangen, um zu schauen, was dahinter steckt. Und generell im gleichen Zuge anzutesten, ob das Medium Comic überhaupt etwas für mich ist.
Und was soll ich nun sagen? Das Medium Comic ist definitiv etwas für mich, und ich habe hinreichend verstanden, was Menschen an The Sandman finden und wieso es so ein wichtiges Werk für Comic-Liebhaber geworden ist. Ich sprach bereits von den 75 Ausgaben, die zusammen mit einer später verfassten Graphic Novel und einer noch später verfassten 6-teiligen Vorgeschichte den Grundstock des Sandman-Universums bilden. Nachdem ich diese Ausgaben zusammengefasst in zehn Trade-Paperback-Bände las, befasste ich mich auch mit einem der Sandman-Spin-Offs, doch auf diese Reihe namens The Dreaming und andere fortführende Geschichten aus dem Universum werde ich noch am Ende zu sprechen kommen. Auch wenn The Sandman, welches beim Ablege-Verlag Vertigo von 1989 bis 1993 original publiziert wurde, offiziell im DC-Universum spielt, befinden sich nur wenige Anspielungen auf die bekannten DC-Helden in seinen vielzähligen und vielseitigen Seiten. Die Reihe fungiert relativ autark, was sich für mich als unbelesenen Comic-Anfänger sehr gut anbot und ergab, da ich mit diversen Querverweisen, Referenzen und Auftritten sicher zuweilen meine Schwierigkeit gehabt hätte. So konnte ich The Sandman lesen und meine Liebe für den Comic an sich und für diese Reihe im Speziellen entdecken, ohne in Gefahr zu laufen, in zu große Universen abzutauchen. Wobei man nicht meinen sollte, dass die Welt, in der die Comics spielen eine einfache und wohlüberschaubare ist - The Sandman lebt von der Grenzenlosigkeit seiner Weltenbetrachtung, was zu großen Teilen der übernatürlichen Natur des Hauptcharakters und vieler weiterer wichtigen Charaktere geschuldet ist...
Man merkt an dieser Stelle der Besprechung vielleicht langsam wirklich allzu stark, dass ich mich davor scheue, eine kleine Exposition der Reihe vorzunehmen. Und jeder, der The Sandman gelesen hat, wird mir sicher dabei zustimmen können, dass es wirklich nicht sehr einfach zu beschreiben ist, was in dieser Reihe passiert, und schon beinahe unmöglich, wirklich eine Miniatur-Plot-Zusammenfassung für einen Zweck wie eben diesen Artikel abzusondern. Da ich aber trotz allem nicht drum herum kommen werde, möchte ich es nun so schnell wie möglich hinter mich bringen, und einen der womöglich schwerstzusammenfassbaren Comics der Geschichte der Comics kurz inhaltlich umreißen: In The Sandman geht es um den titelgebenden übersinnlichen und quasi göttlichen Morpheus, der der Herr über die Träume der Menschenwelt ist und diese steuert und verwaltet. Zu Beginn der Serie entflieht Morpheus einer dreißigjährigen Gefangenschaft, und die ganze Reihe erzählt die Geschichten, die sich im Zuge seiner Wiederaufnahme seiner Tätigkeiten als Herr der Träume ereignen. Morpheus, der unter vielen, vielen Namen verkehrt, und dessen wichtigster weiterer Name Dream ist, gehört, wie sich dem Leser mit der Zeit erschließt, zu einer Familie, die zusammengefasst als The Endless operieren und die Welt in ihren Fugen halten. Zu dieser Familie gehören neben Dream Destiny, Death, Delirium, Despair, Destiny und der verschollene Bruder Destruction. Doch worum es in The Sandman neben all der Geschichten rund um diverse Probleme, die sich für Dream und/oder seine Geschwister auftun, eigentlich geht, sind im Grunde menschliche Grundfragen, innere Konflikte und die Wandlungen, die ein Charakter mit der Zeit durchgehen kann. Das Besondere an der Saga ist, dass sie sich nicht ausschließlich um die mal spannenden und wirklich interessanten, mal weniger fesselnden Geschichten dreht, sondern sie lediglich als Vorwand nimmt, um tiefe Charaktereinsichten zu geben, differenzierte Betrachtungen der alten Fragen nach Schuld und Sühne, Liebe und Hass, Ordnung und Unordnung abzuhalten, und dies alles kongenial in die durch Morpheus gegebene Traum-Thematik einzubinden. Wenn Gaiman selbst dazu gefragt wird, was er an The Sandman am Gelungensten findet, dann verweist er auf die "little moments", in denen es eben nicht um die große epische Handlung geht, sondern um Auseinandersetzung mit sozialkritischen und metaphysischen,  tiefenpsychologischen und spirituellen Fragen und Charakterentwicklungen auf subtilstem Level.


Dass sich Gaiman für eine Reihe, die eben solche grenzenlosen Grundfragen der menschlichen Existenz beleuchten, betrachten und besprechen soll, gerade die übersinnliche Figur des Herrn der Träume ausgesucht hat, ist kein Zufall. Denn auch wenn die Träume eines jeden Menschen differieren, so ist es für sie doch alle gleich, dass sie die Welt und die Gedanken, gar das ganze Leben des Träumers nicht nur schmücken und verschönern, sondern auch belasten und erschüttern können - und mit egal welchen ihrer Funktionen stets irgendeine Art von Einfluss auf den Träumer und seinen Charakter haben, ob er will oder nicht. Auch ist es sehr interessant, wie Gaiman sich der Charakterentwicklung und der signifikanten Veränderung nicht irgendeines Menschen, sondern der ewigen und über fast allem stehenden Figur Dream annimmt, und so aufzeigt, dass sogar ein Wesen, welches einer Gottheit nicht unähnlich ist, ins Zweifeln kommen kann über diverse Dinge, sich zuweilen unwohl fühlen kann in seiner Position und auch für eine solche Entität nicht immer alles großartig und funktionell verläuft.
The Sandman hat für mich als Leser vor allem deswegen so gut funktioniert, weil mir die Reihe (auch wenn ich manche Plots spannender fand als andere, und mir die One-Shot-Kurzgeschichten, die Gaiman immer wieder im Verlauf der Saga unterbringt und neben große zusammenhängende Geschichten wie meine beiden liebsten Story-Arcs Brief Lives und das wirklich unglaublich epische The Kindly Ones stellt, nicht so sehr lagen wie ebenjene großen Brüder) fortlaufend tolle Charaktere und interessante Innensichten gab. Außerdem begeisterte mich von Anfang an Gaimans ausgeklügelte und für das Comic-Format wirklich überdurchschnittlich literarische und poetische Sprache, mit der er die Geschichten rund um Morpheus erzählt - auch wenn Gaiman selbst zugibt, dass die Ausgaben der Reihe, der sich heute in der Regel im ersten Sammelband Preludes and Nocturnes finden lassen, ihm gerade sprachlich und auch strukturell ein bisschen peinlich geworden sind und er sie als nicht gerade gelungene Selbstfindungsphase im Sandman-Universum klassifiziert, ich war von den ersten Seiten an gefesselt und wollte nicht mehr aus der großen Reise aussteigen, bis ich am Ende vom wirklich gelungenen Finalband The Wake ankam.


Nicht unerwähnt lassen möchte ich neben all den inhaltlichen Diensten den stilistischen Dienst lassen, den The Sandman mir getan hat. Denn als kompletter Neuling im Medium Comic wurde ich in dieser Reihe über eine Spanne von 75 Issues und sowie additionale Graphic Novel und die grandios gezeichnete Overture-Reihe, die eine Vorgeschichte zu den ersten Geschehnissen im Debütband zeigt, mit einer unermesslichen Fülle an verschiedenen Zeichenstilen und Varianten der Comic-Darstellung konfrontiert. Und auch, wenn es mich zunächst etwas schockierte und es auch nicht wirklich direkt einfach für mich war, zu begreifen und zu akzeptieren, dass Gaiman für The Sandman immer wieder mit den verschiedensten Illustratoren und Zeichnern zusammenarbeitete und somit eine Reihe kreierte, die zwar in ihrer Handlung kohärent und passend ist, aber in ihrer Darstellung immer wieder stark differiert und sich inszenatorisch ständig neu erfindet - am Ende kann ich sagen, dass sich diese Erfahrung für meine weiteren Reisen in die Welt der Comics, die nun zum Regelfall geworden sind, durchaus gelohnt hat. Auch kann ich nicht umher zu sagen, dass egal auf welche Art und Weise die Sandman-Geschichten gerade in den diversen Heften dargestellt werden, sie immer wirklich gekonnt und mit versiertem Eifer dargestellt sind. Mir ist kein Stil in der Stilfülle der Reihe untergekommen, mit dem ich überhaupt nichts anfangen konnte und er mich komplett rausgeworfen hat. 


Zu guter Letzt möchte ich noch auf die Spin-Offs gehen, die von der Sandman-Saga ausgehen, und mit denen ich mich auch teilweise bereits beschäftigt habe oder noch gedenke, mich zu beschäftigen. Zunächst wäre da das sehr abgegrenzte Lucifer, welches den Höllenverwalter weiterverfolgt, wie er nach dem Kündigen seines Amtes in The Sandman eine Bar in Kalifornien eröffnet und diverse Abenteuer erlebt. Lucifer ist auch der Charakter der Reihe, der sich am ehesten in anderen DC-Werken als Nebencharakter in einigen Storylines wiederfinden lässt. Mein Interesse an Lucifer ist nicht sonderlich hoch, doch irgendwann werde ich mich sicher mal mit der Reihe befassen. Nicht aber, weil sie unbedingt die Sandman-Verbindung hat, sondern einfach, weil sie für sich allein wie eine interessante Comic-Erfahrung klingt. 
Sandman Mystery Theatre, welches sich in meinem Besitz befindet und ich gedenke, in nicht allzu ferner Zeit anzugehen, ist eine Rückbesinnung auf die Figur Wesley Dodds, welcher vor Morpheus ein DC-Charakter war, der als Sandman auftrat, und somit eine Neuerzählung der 1930er-Comics im einem Stil, der an den Film Noir angelehnt ist. Die Reihe klang meiner Meinung nach sehr ansprechend, und es wird in ihrem Verlauf wohl auch einige Treffen mit Morpheus und Co. geben, was für mich ein großer Anreiz zum Lesen ist.
Neben etlichen Mini-Serien über einige der Endless-Geschwister gibt es noch eine weitere große Spin-Off-Reihe, und diese ist das im Anschluss an The Sandman komplett von mir gelesene The Dreaming, über welches ich jetzt noch etwas genauer sprechen will. Denn es gibt durchaus einige Sachen zu verlieren über diese Reihe, die sich mit den Geschehnissen in den unendlichen Weiten des Traumlandes unter Morpheus' Kontrolle befasst, wenn der Meister gerade einmal zu anderen Sphären aufgebrochen ist. Diese wenn auch recht schlichte, doch wirklich geniale Idee wird zwar nicht komplett verschenkt, doch denke ich, dass man durchaus mehr aus The Dreaming hätte machen können. Positiv zu bemerken ist, dass es wie bei The Sandman ein ständig rotierendes Zeichnerkollektiv gab, und so sehen alle kleinen Story-Arcs sehr eigenständig und immer wieder neu und aufregend aus. Eine gute Entscheidung war es auch, sich nach etwa einem Drittel des 60 Ausgaben umfassenden Laufes der Serie einer Kompletterneuerung zu unterziehen und vom recht belanglosen, wenn auch meist ein Mindestmaß an Unterhaltung bietenden Anthologie-Format hin zu einer kohärenten Geschichte mit weniger Hauptcharakteren zu evolvieren. Doch die Charaktere der Reihe konnten mich nie so sehr interessieren wie die von The Sandman selbst, und sie wurden mir durch ihr teilweise wirklich exzessiv vollzogenes Breittreten und Ausbauen und Umbauen in The Dreaming sogar für ihre gesamte Existenz im Sandman-Universum... Naja, wollen wir mal nicht sagen "zerstört", aber doch wurde der Spaß an ihnen und die Neugier auf sie herbe beeinträchtigt und teilweise sogar komplett zerschlagen. Ich kann verstehen, wenn man als Leser der Hauptreihe Lust hat, sich The Dreaming zuzuwenden, und ich will es auch nicht zur schlechtesten Comic-Reihe überhaupt degradieren, doch ich kann sie Fans der Gaiman-Comics ehrlich nicht guten Gewissens ans Herz legen. Es lohnt sich vielleicht, einen kurzen Blick auf die ersten Ausgaben zu werfen, und vielleicht gibt es ja auch Leute, die viel besser mit der Reihe klarkommen als ich und sich komplett in ihr zu Hause fühlen können - für mich war The Dreaming nichts, und ich habe es eigentlich nur zu Ende gelesen, da ich mich bereits in der sich immer weiterentwickelnden großen Handlung steckte, nicht mehr im Anthologie-Part der Serie herumdümpelte und deshalb wenigstens das Ende all der mehr oder weniger egalen Ereignisse erfahren wollte. 


The Sandman hat mich stark begeistert, beeinflusst und geprägt. Die Reihe wird für immer einen speziellen Platz in meinem Herzen haben, und ich möchte sie desweiteren in den nächsten Monaten einem Re-Read unterziehen, um noch tiefer in ihre Philosophie und ihre Magie einzutauchen, als es mir beim ersten Mal ob der Neuheit und Ungewohntheit möglich war. Ich bin sehr froh, den Einstieg in die Comic-Welt gewagt zu haben, und ich bin unendlich froh, ihn mit dieser unvergleichlichen und ganz besonderen Saga gewagt zu haben. 

Wir lesen uns in diesem Blog dann bald wieder zu einer (der Reihe geschuldet wohl wahrscheinlich etwas weniger ausführlichen) Besprechung von Joe Hills Locke & Key.
Bis dahin!

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen