Mittwoch, 15. Februar 2017

Sweet Tooth: Wunderschöne Apokalypse


Die vom Kanadier Jeff Lemire ins Leben gerufene Vertigo-Reihe Sweet Tooth, die zwischen 2009 und 2013 für 40 Einzelausgaben im amerikanischen Original lief, und welche ich in den sechs zusammenfassenden Sammelbänden gelesen habe, ist vielleicht nicht der beste Comic den ich bis dato gelesen habe, aber definitiv der mit dem wunderbarsten Style. Will ich hier über Sweet Tooth reden, ist es mir unmöglich, ein Wort über Story, Erzählart oder Sonstiges zu berichten, ohne vorneweg darauf hinzuweisen, wie großartig ich die stilistische Stringenz des Werkes finde. Lemire schrieb nicht nur alle Issues, sondern zeichnete auch alles selbst, und diese Paarung, dieses spezielle und nicht allzu oft auftretende Phänomen, dass Zeichner und Autor nicht nur enge Verbündete sind, sondern wirklich ein und dieselbe Person, macht viel von der Besonderheit von Sweet Tooth aus. Selbst die einzige Ausnahme der Lemire-Komplettkontrolle, die eine vier Einzelhefte umfassenden Vorgeschichte bildet, die von zur Abhebung (und zeitlichen Entlastung Lemires) von einem anderen Zeichner umgesetzt wurde, fügt aufgrund ebenjener passenden Abgrenzung perfekt in die Reihe ein und wertet sie sogar auf. Ansonsten sind die perfekte Abstimmung von Story und Artwork aufeinander sind das Vollkommenste, was mir bis jetzt im Comic-Fach untergekommen ist, und schon aufgrund ihres außergewöhnlichen, einprägsamen und wunderbar verspielten Stil und ihrer Aufmachung allein ist die Reihe meiner Meinung nach einen Blick wert. Dass sie nebenbei auch noch eine der besten und einfallsreichsten Postapokalypsen des Mediums erzählt, ist da beinahe geschenkt... Aber nur beinahe.


Sweet Tooth setzt ein in einer Welt, in der die Menschheit zu großen Teilen von einer unbekannten Krankheit hinweggerafft wurde. Und soweit ist das überhaupt nichts Neuartiges, eigentlich ein ziemlich alter Hut. Doch bevor wir überhaupt die genauen Ausmaße der Plage mitbekommen, werden uns Gus und sein Vater vorgestellt, die zurückgezogen und abgeschottet in einer kleinen Hütte in den Wäldern von Nebraska leben. Doch Gus' Vater ist, trotz der langen Standhaftigkeit, im Begriff, ebenfalls an der Krankheit zugrunde zu gehen, und er stirbt auch zu Beginn der Geschichte und lässt seinen nur neun Jahre alten Sohn alleine in der sterbenden bzw. zu großen Teilen schon gestorbenen Welt zurück. Gus bleibt gesund. Und ist obendrein ein Hybridwesen aus Mensch und Hirsch, was vielleicht ein Grund dafür sein könnte, dass er immun gegen die Seuche ist. Nach einem Zusammenstoß mit einer Gruppe noch lebendiger Outlaws trifft Gus auf Mr. Jepperd, einen ebenfalls noch überlebenden Menschen. Dieser will Gus mit hinaus aus dem Wald nehmen, den dieser nach dem strengen Regelwerk seines Vaters aus Sicherheitsgründen eigentlich nicht verlassen darf, um ihn in ein Lager zu bringen, in dem man Kinder wie ihn (als die anscheinend häufiger auftretenden Hybride) verwahrt, ihnen Schutz bietet und sie zu ergründen versucht. Gus ist sich nicht sicher, ob er Mr. Jepperd vertrauen kann, doch reist trotzdem mit ihm los, weil seine Neugier ihn übermannt und er sich nach einem Ort mit mehr Gesellschaft als in der nach dem Vatertode gottverlassenen Waldhütte sehnt. Ob das Verlassen des Waldes im Endeffekt eine gute Idee war, oder er doch lieber auf die alten Anweisungen seines Vaters hätte hören sollen... Das muss jeder selbst erfahren.



Neben dem unangefochtenen Titel als schönsten Comic, den ich gelesen habe, gestehe ich Sweet Tooth auch eine der höchsten und rasantesten Twist-Dichten zu. Die Ausgangssiutation der Geschichte, die ich oben grob zusammengefasst habe, spiegelt in etwa die ersten beiden Einzelhefte von 40 spannenden und immer wieder mit enormen Mind-Fuck-Momenten aufwartenden Issues wieder. Selten habe ich irgendein erzählerisches Werk mit so drakonischen und vernichtenden Entscheidungen gelesen, und das meine ich vollkommen ernst. Lemire macht keine Gefangenen, ist dem Leser immer mindestens drei Schritte voraus und wartet hinter jeder Ecke und am Ende von fast jeder Ausgabe mit dem Hammer auf ihn. Man mag vielleicht zunächst meinen, dass die Geschichte eines Knabens mit fälschlicherweise angeborenem Hirschgeweih sich doch wohl in gesitteten Bahnen abspielen wird - doch Sweet Tooth ist eine Achterbahnfahrt voller Action, Thrill und Horror.
Die Epochalität und der Größenwahnsinn, der sehr gemächlich und hintergründig aus der Hybrid-Mythologie entwächst und sich beinahe mehr hinter dem Rücken der Charaktere als hinter dem Rücken des Lesers zu einer riesigen Geschichte für sich entwickelt, ist eine riesige literarische Errungenschaft. Lemire hat nach dem Ende der Reihe in einigen Interviews immer wieder betont, dass zwar alle Mittel-Parts der Story in frühen Konzepten Lücken aufgewiesen hätten, es das ultimative Ende und sogar die Sketche für die letzten Seiten schon zu gleichen Zeit gab, in der der Anfang geschrieben und gepitcht wurde. Man merkt dem Comic diese Entschlossenheit, zu eben dem Ende zu kommen, zu dem er gekommen ist, im Nachhinein sehr stark an, und gerade die Hinführung auf das große Finale im letzten Drittel der Ausgaben ist mit keinem anderen Wort als genial zu beschreiben. Ebenso fällt im Hinblick auf diese Aussage auch auf, dass Sweet Tooth trotz der nur 40 Issues an manchen Stellen vielleicht etwas lang geworden ist. Oder anders: man merkt, dass eben die in der Mitte der  Gesamtgeschichte befindlichen Lücken einmal Lücken waren, die zwar auf kreative und interessante Art und Weise gefüllt wurden, aber deren früheres Lückendasein in einer sonst so perfekt ausgearbeiteten Story trotzdem stellenweise anmerken kann. Weniger lesenswert macht das die Reihe aber nicht, was Lemires wirklich tollem Stil in sowohl seinen Zeichnungen wie auch seiner Schreibe zuzuschreiben ist. Es ist konstant ein Genuss, wie er mit dem Medium spielt, wie er Panels arrangiert und Charaktere ergründet, wie er Verbindungen herstellt und Träume zerschlägt, Brücken baut und immer wieder neue Leser-Theorien kontert und zerschmettert.


Und das war mein kleiner Rückblick auf Sweet Tooth, eine meiner Meinung nach viel zu stark unter dem Radar laufende Reihe, die sowohl durch ihre spannende Herangehensweise an das oft breitgetretene Thema Post-Apokalypse als auch ihre wunderschöne stilistische Aufarbeitung besticht. Ich wünsche Gus und all seinen Freunden, Feinden und den Charakteren im weiten Raum zwischen diesen beiden Fronten mehr Leser und mehr Aufmerksamkeit... Und beim nächsten Mal widme ich einer Comic-Reihe, die sich von diesem letzten Statement kaum mehr absetzen könnte. Denn Transmetropolitan ist ein waschechter Klassiker der Szene. Und was für ein genialer und relevanter Klassiker es ist, darüber lasse ich mich in einigen Tagen hier aus.

Bis dahin!

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