Mittwoch, 22. Februar 2017

Transmetropolitan: Journalistischer Wahnsinn


Das Genre des Cyberpunk ist eines jener Gebiete, die mich nie vollständig überzeugen konnten, wann immer ich mich mit Werken, die in diese Richtung gehen, auseinandergesetzt habe. Meine literarischen Cyberpunk-Versuche sind allesamt gescheitert in der Vergangenheit... Und immer habe ich mich gefragt, wieso dies eigentlich der Fall war, und warum mich dieses spezielle Sub-Genre der Science-Fiction nie bei sich behalten konnte. Denn im Grunde finde ich die Idee, die dem Cyberpunk definiert, wirklich spannend, interessant und reizvoll: eine dystopische Gesellschaft, in der aus hoch ausgebildeter und unglaublich vielfältig eingesetzter Technik kein gutes Leben mehr möglich ist und alles Soziale aufgrund der alles übernehmenden Computer den Bach runter geht, ist etwas, woraus man wirklich sehr viel machen kann. Und deshalb war ich von der Grundidee des Genres ja auch immer begeistert, konnte nur mit den paar Umsetzungen im Feld der Sci-Fi-Literatur, mit denen ich mich befasst, nichts anfangen... Warren Ellis' tolle Comic-Serie Transmetropolitan, die ich letztes Jahr las, tat für mich endlich zum ersten Mal all das, was ich mir von Cyberpunk-Geschichten immer erwünscht hatte, und konnte mich völlig vom Konzept der hochtechnisierten Slum-City überzeugen.


Transmetropolitan, geschrieben von Warren Ellis und in Bilder verpackt vom überaus talentierten Darick Robertson (den man in diesem Blog auch in der Besprechung der von mir heißgeliebten Reihe The Boys wiedertreffen wird in naher Zukunft, denn dieser ließ er nach dem Ende von Transmetropolitan seinen unverwechselbaren Stil angedeihen und zusammen bilden die beiden Reihen die Kernstücke seines beeindruckenden künstlerischen Œuvres), lief beim DC-Ableger Vertigo von 1997 und 2002 und brachte insgesamt 60 Einzelausgaben und zwei One-Shots hervor, welche ich zusammengefasst in den zehn Trade-Paperbacks las, die einige Jahre später auf den Markt geworfen wurden. Es erzählt die Geschichte von der Wiederkehr des Journalisten Spider Jerusalem aus dem selbstgewählten Exil in einer Waldhütte in seine alte Heimat, eine von Übertechnisierung und Übermodernisierung zerfressene Massenmetropole, welche nie mit etwas anderem als dem symbolischen Titel "The City" belegt wird, und seiner Wiederaufnahme der Tätigkeit als Journalist in ebendieser sozial zerfressenen, degenerierten und heruntergekommenen Stadt. In der "City" sind Verbrechen aller Art an der Tagesordnung. Gewalt, Mord, Prostitution, Drogen und sogar gewissermaßen futuristisch kultivierte ehemalige Tabus wie Kannibalismus und ausgelebte Pädophilie gehören zum normalen Straßenbild. Die nicht genau abgesteckte Zukunft, in der die Reihe ihre Handlung verortet, die sich jedoch an einigen Stellen in etwa als Vision des 23. Jahrhunderts erkennen lässt, ist von Medien und Technik kontrolliert, Aliens haben die Erde besucht und ihren Weg in die Gesellschaft gefunden, und die Politik ist ein einziger verlogener Schweinestall. Die eng mit der Politik verletzten Medien, die dem kaputten und nur mit Mühe eine funktionelle Existenz bestreitenden Großteil der Bevölkerung so gut wie keine Beachtung schenken, sind eng mit der Politik vernetzt, und die Kontrolle, die der Staat auf sämtliche Bereiche des Lebens in der "City" hat, ist immens und nicht gutzuheißen.



Was Transmetropolitan erzählerisch und storytechnisch auszeichnet, ist vor allem der Hauptcharakter. Spider Jerusalem, eine liebevolle Hommage an den legendären Gonzo-Journalisten Hunter S. Thompson, ist ein nicht weniger von der Übertechnisierung gebeuteltes und mental von Drogen und der großen Belastung all der städtischen Verruchtheit und Asozialität belastetes Individuum, als es die meisten anderen Bewohner der Metropole auch sind. Im Verlauf der Reihe nimmt er seine Tätigkeit als Kolumnist wieder auf und landet diverse journalistische Coups, die alle gerade deswegen interessant sind, da sie in einer Welt geschehen, welche a) voll politischer Degeneration und unlauterer Korruption und Lügerei ist, und in der es b) keinerlei "echten" Journalismus mehr gibt, und in der Spider der einzige sein kann, der wirklich etwas bewegen, aufdecken und erkennen kann. Er ist ein Unikat in einer Gesellschaft, in der sich sonst niemand um die alles beeinflussenden Zusammenhänge und hinterlistigen Verbindungen schert, und deshalb ist er nicht nur Journalist, sondern Superheld, Genie und narzisstisches und selbstverliebtes Arschloch zu gleichen Teilen. Seine Persönlichkeit, und daneben auch noch seine beiden "filthy assistants" Yelena und Channon, die im bei all seinen Entdeckungen zur Seite stehen, so gut und so viel sie können, auch wenn sie beizeiten nicht gut mit dem verkopften Arbeitgeber klarkommen, wie sie gerne würden, machen die Reihe sehr lesenswert und witzig. Außerdem ist die Ausarbeitung der Welt sehr detailliert, und Ellis versteckt andauernd kleine Anspielungen, Gags und kreative Blödsinnigkeiten in seine großangelegten, mit schönen kleinen Twists garnierten und häufig politikkritische Analogien zu in unserer gegenwärtigen Gesellschaft auftretenden Problemen beinhaltende Plotlines, die viel Spaß garantieren. Das einzige, was mich ein wenig gestört hat, ist das Ende, welches er seiner langlaufenden Reihe verpasst; denn mag es auch konsequent sein, und nicht unbedingt eine schlechte Konklusion für Spiders Geschichte, so hätte ich mir doch etwas Epischeres und Bedeutenderes vorstellen können und auch gewünscht. Doch Transmetropolitan bleibt ein unglaublich kreatives, einzigartiges ideenreiches und mit einem ganz speziellen Humor ausgestattetes Stück Comic-Geschichte, welches seinen hohen Status auf alle Fälle verdient hat und dem man sich als Fan des Mediums schon allein aufgrund der tollen und andersartigen Erzählweise und Robertsons tollen Artworks ergeben sollte.


Und das war mein kleiner Rückblick auf meine Lese-Eindrücke zu Transmetropolitan. Spider Jerusalem, dieser griesgrämige, hasserfüllte und durch und durch furchtbare, aber doch so interessante, urkomische und liebenswerte Teufelskerl von einem Berichterstatter, wird mir immer als eine der bestgeschriebenen Comic-Charaktere im Kopf bleiben, die mir je begegnet sind, und ich wäre niemals abgeneigt, mich (in einigen Jahren vielleicht) für einen Re-Read zurück in die dreckige "City" und seine unverblümten und brutal ehrlichen Ansichten zu ihr zu begeben. Bald geht es hier im Blog mit einer Recap zu Bone weiter, und wieder einmal könnte der Kontrast zwischen zwei nacheinander besprochenen Reihen nicht größer sein. Denn Bone ist ein überaus schönes und herzensgutes Phänomen in der Comic-Landschaft... Aber dazu bald mehr.

Bis dahin!

Mittwoch, 15. Februar 2017

Sweet Tooth: Wunderschöne Apokalypse


Die vom Kanadier Jeff Lemire ins Leben gerufene Vertigo-Reihe Sweet Tooth, die zwischen 2009 und 2013 für 40 Einzelausgaben im amerikanischen Original lief, und welche ich in den sechs zusammenfassenden Sammelbänden gelesen habe, ist vielleicht nicht der beste Comic den ich bis dato gelesen habe, aber definitiv der mit dem wunderbarsten Style. Will ich hier über Sweet Tooth reden, ist es mir unmöglich, ein Wort über Story, Erzählart oder Sonstiges zu berichten, ohne vorneweg darauf hinzuweisen, wie großartig ich die stilistische Stringenz des Werkes finde. Lemire schrieb nicht nur alle Issues, sondern zeichnete auch alles selbst, und diese Paarung, dieses spezielle und nicht allzu oft auftretende Phänomen, dass Zeichner und Autor nicht nur enge Verbündete sind, sondern wirklich ein und dieselbe Person, macht viel von der Besonderheit von Sweet Tooth aus. Selbst die einzige Ausnahme der Lemire-Komplettkontrolle, die eine vier Einzelhefte umfassenden Vorgeschichte bildet, die von zur Abhebung (und zeitlichen Entlastung Lemires) von einem anderen Zeichner umgesetzt wurde, fügt aufgrund ebenjener passenden Abgrenzung perfekt in die Reihe ein und wertet sie sogar auf. Ansonsten sind die perfekte Abstimmung von Story und Artwork aufeinander sind das Vollkommenste, was mir bis jetzt im Comic-Fach untergekommen ist, und schon aufgrund ihres außergewöhnlichen, einprägsamen und wunderbar verspielten Stil und ihrer Aufmachung allein ist die Reihe meiner Meinung nach einen Blick wert. Dass sie nebenbei auch noch eine der besten und einfallsreichsten Postapokalypsen des Mediums erzählt, ist da beinahe geschenkt... Aber nur beinahe.


Sweet Tooth setzt ein in einer Welt, in der die Menschheit zu großen Teilen von einer unbekannten Krankheit hinweggerafft wurde. Und soweit ist das überhaupt nichts Neuartiges, eigentlich ein ziemlich alter Hut. Doch bevor wir überhaupt die genauen Ausmaße der Plage mitbekommen, werden uns Gus und sein Vater vorgestellt, die zurückgezogen und abgeschottet in einer kleinen Hütte in den Wäldern von Nebraska leben. Doch Gus' Vater ist, trotz der langen Standhaftigkeit, im Begriff, ebenfalls an der Krankheit zugrunde zu gehen, und er stirbt auch zu Beginn der Geschichte und lässt seinen nur neun Jahre alten Sohn alleine in der sterbenden bzw. zu großen Teilen schon gestorbenen Welt zurück. Gus bleibt gesund. Und ist obendrein ein Hybridwesen aus Mensch und Hirsch, was vielleicht ein Grund dafür sein könnte, dass er immun gegen die Seuche ist. Nach einem Zusammenstoß mit einer Gruppe noch lebendiger Outlaws trifft Gus auf Mr. Jepperd, einen ebenfalls noch überlebenden Menschen. Dieser will Gus mit hinaus aus dem Wald nehmen, den dieser nach dem strengen Regelwerk seines Vaters aus Sicherheitsgründen eigentlich nicht verlassen darf, um ihn in ein Lager zu bringen, in dem man Kinder wie ihn (als die anscheinend häufiger auftretenden Hybride) verwahrt, ihnen Schutz bietet und sie zu ergründen versucht. Gus ist sich nicht sicher, ob er Mr. Jepperd vertrauen kann, doch reist trotzdem mit ihm los, weil seine Neugier ihn übermannt und er sich nach einem Ort mit mehr Gesellschaft als in der nach dem Vatertode gottverlassenen Waldhütte sehnt. Ob das Verlassen des Waldes im Endeffekt eine gute Idee war, oder er doch lieber auf die alten Anweisungen seines Vaters hätte hören sollen... Das muss jeder selbst erfahren.



Neben dem unangefochtenen Titel als schönsten Comic, den ich gelesen habe, gestehe ich Sweet Tooth auch eine der höchsten und rasantesten Twist-Dichten zu. Die Ausgangssiutation der Geschichte, die ich oben grob zusammengefasst habe, spiegelt in etwa die ersten beiden Einzelhefte von 40 spannenden und immer wieder mit enormen Mind-Fuck-Momenten aufwartenden Issues wieder. Selten habe ich irgendein erzählerisches Werk mit so drakonischen und vernichtenden Entscheidungen gelesen, und das meine ich vollkommen ernst. Lemire macht keine Gefangenen, ist dem Leser immer mindestens drei Schritte voraus und wartet hinter jeder Ecke und am Ende von fast jeder Ausgabe mit dem Hammer auf ihn. Man mag vielleicht zunächst meinen, dass die Geschichte eines Knabens mit fälschlicherweise angeborenem Hirschgeweih sich doch wohl in gesitteten Bahnen abspielen wird - doch Sweet Tooth ist eine Achterbahnfahrt voller Action, Thrill und Horror.
Die Epochalität und der Größenwahnsinn, der sehr gemächlich und hintergründig aus der Hybrid-Mythologie entwächst und sich beinahe mehr hinter dem Rücken der Charaktere als hinter dem Rücken des Lesers zu einer riesigen Geschichte für sich entwickelt, ist eine riesige literarische Errungenschaft. Lemire hat nach dem Ende der Reihe in einigen Interviews immer wieder betont, dass zwar alle Mittel-Parts der Story in frühen Konzepten Lücken aufgewiesen hätten, es das ultimative Ende und sogar die Sketche für die letzten Seiten schon zu gleichen Zeit gab, in der der Anfang geschrieben und gepitcht wurde. Man merkt dem Comic diese Entschlossenheit, zu eben dem Ende zu kommen, zu dem er gekommen ist, im Nachhinein sehr stark an, und gerade die Hinführung auf das große Finale im letzten Drittel der Ausgaben ist mit keinem anderen Wort als genial zu beschreiben. Ebenso fällt im Hinblick auf diese Aussage auch auf, dass Sweet Tooth trotz der nur 40 Issues an manchen Stellen vielleicht etwas lang geworden ist. Oder anders: man merkt, dass eben die in der Mitte der  Gesamtgeschichte befindlichen Lücken einmal Lücken waren, die zwar auf kreative und interessante Art und Weise gefüllt wurden, aber deren früheres Lückendasein in einer sonst so perfekt ausgearbeiteten Story trotzdem stellenweise anmerken kann. Weniger lesenswert macht das die Reihe aber nicht, was Lemires wirklich tollem Stil in sowohl seinen Zeichnungen wie auch seiner Schreibe zuzuschreiben ist. Es ist konstant ein Genuss, wie er mit dem Medium spielt, wie er Panels arrangiert und Charaktere ergründet, wie er Verbindungen herstellt und Träume zerschlägt, Brücken baut und immer wieder neue Leser-Theorien kontert und zerschmettert.


Und das war mein kleiner Rückblick auf Sweet Tooth, eine meiner Meinung nach viel zu stark unter dem Radar laufende Reihe, die sowohl durch ihre spannende Herangehensweise an das oft breitgetretene Thema Post-Apokalypse als auch ihre wunderschöne stilistische Aufarbeitung besticht. Ich wünsche Gus und all seinen Freunden, Feinden und den Charakteren im weiten Raum zwischen diesen beiden Fronten mehr Leser und mehr Aufmerksamkeit... Und beim nächsten Mal widme ich einer Comic-Reihe, die sich von diesem letzten Statement kaum mehr absetzen könnte. Denn Transmetropolitan ist ein waschechter Klassiker der Szene. Und was für ein genialer und relevanter Klassiker es ist, darüber lasse ich mich in einigen Tagen hier aus.

Bis dahin!

Mittwoch, 8. Februar 2017

Y: The Last Man: Allein unter Vielen


Y: The Last Man ist eine Institution in der Welt der Comic-Bücher, oft ist die Reihe aus der Feder von Brian K. Vaughan ganz weit oben mit dabei, wenn es um eine Auflistung der "besten Graphic Novels aller Zeiten" geht auf diversen einschlägigen Ranglisten-Websites. Somit stieß ich nicht lange, nachdem ich anfing, mir wohlnährendes Futter für meine neue Comic-Leidenschaft im Internet zu suchen, auf all die Lobpreisungen und himmlischen Hymnen auf die Geschichte von Yorick Brown und dem ganz besonderen post-apokalyptischen Setting, in welchem er sich durchschlagen muss. Ich war schnell von der Grundidee der Reihe angefixt, und freute mich nach der Lektüre von Locke & Key, die doch recht kurz von Dauer gewesen war, auf eine mit 60 Einzel-Issues und (für mich) zehn zusammenfassenden Trade-Paperback-Bänden längere und vermutlich epischere Geschichte. Wie auch schon The Sandman, erschien Y: The Last Man desweiteren beim DC-Ableger Vertigo, was für mich ebenfalls nach einem Qualitätsmerkmal klang, und einen weiteren Grund gab, die Reihe zu beginnen. (Im späteren Verlauf meiner Reise durch die Comic-Welt sollte sich diese Einschätzung nur mehr und mehr verhärten, so viel sei kurz am Rande erwähnt).
Ebenjene berühmt gewordene Grundidee der Geschichte von Yorick Brown ist folgende: am 17. Juli 2002 sterben zur exakt gleichen Uhrzeit alle männlichen Säugetiere auf dem Planeten Erde. Somit verleiht nicht nur Yoricks Anfangsbuchstabe der Serie ihren doppeldeutigen Titel, sondern auch die Ausgangssituation der Auslöschung allen weltlichen Lebens, welches ein Y-Chromosom in sich trägt. Lediglich Yorick, ein junger Magier und Ausbruchskünstler, und sein Äffchen Ampersand überleben vom männlichen Geschlecht. Der plötzliche keinem möglichen Täter zuzuordnende Genozid führt zu vielen weiteren Katastrophen, wie etwa etlichen Flugzeugabstürzen, und Yorick und sein Ampersand finden sich von einem Schlag auf den anderen in einer Welt wieder, in der es nur noch weibliches Leben gibt. Yoricks Mutter, die einen Posten im amerikanischen Kongress innehält, beauftragt die namenlose Agentin 355 zur Sicherstellung ihres Sohnes, und zusammen reisen sie zu einem Treffen mit der Genbiologin Dr. Mann, welche sich auf die Klon-Forschung spezialisiert hat. Diese drei Charaktere werden für den Rest der Reihe den innersten Kern des Personals bilden. Militärorganisationen verschiedener Staaten werden versuchen, sich Yorick habhaft zu machen, ebenso wie neuformierte Gruppen von selbsternannten Amazonen-Kriegerinnen, die die Gunst der Stunde genutzt haben, um ihre Ideologie an die Frau zu bringen, ihn jagen. Dr. Manns familiäre Hintergründe werden genauso eine Rolle spielen wie der sogenannte "Culper Ring", welchem Agentin 355 angehört, und Yoricks Schwester Hero Brown, welche ihr ganz eigenes Schicksal zu erleiden hat... Und Yorick ist trotz all den Geschehnissen um ihn herum nichts auf der Welt wichtiger, als seine Freundin Beth wiederzutreffen, die sich zum Zeitpunkt des Massensterbens auf einer Expedition in der australischen Wildnis befand, und die es für ihn nun zu suchen und zu finden gilt.


Brian K. Vaughan versteht es sehr gut, interessante und tiefe Charaktere zu kreieren, und er schafft es ebenfalls mit Bravour, den Leser über die gesamte Laufzeit von Y: The Last Man immer wieder mit neuen Wendungen und neuen Erkenntnissen zu konfrontieren, sodass der Reihe niemals die Spannung fehlt. Auch wenn ich im Nachhinein das Gefühl hatte, dass die zweite Hälfte qualitativ etwas nachließ, so kann ich doch nicht sagen, dass ich in den 60 Kapiteln der großen, übergreifenden Geschichte jemals wirklich gelangweilt hätte. Nein, im Gegenteil, zu den allergrößten Teilen ist es ein Genuss, Vaughans Plots zu verfolgen, zu sehen, wie er mit Erwartungshaltungen und voreiligen Interpretationen spielt und, nicht nur als Leser allein, sondern zusammen als eine Einheit mit den Hauptcharakteren, den riesigen Zusammenhängen und Twists auf die Schliche zu kommen. Yorick, Agentin 355, Allison Mann, auch Ampersand, Hero und viele weitere sekundäre Charaktere sind wunderbar geschriebene und ausgearbeitete Wesen, die mir lange Zeit nach dem Lesen nicht mehr aus dem Kopf gehen wollten und mit denen ich gerne eine lange, beschwerliche Reise, an ein mehr als zufrieden stellendes (und alle kleinen Hänger der zweiten Hälfte der Reihe ausgleichendes) Finale angetreten habe.
Y: The Last Man lebt sowohl von den flinken Dialogen zwischen den Charakteren, die Vaughan stets authentisch und situationsbezogen in passendem Ton verfasst, von den kleinen Eigenheiten des näher ergründeten Hauptpersonals und den zwischenmenschlichen Beziehungen und Beziehungsproblemen, die sie bestimmen und zeichnen, als auch von actiongeladenen Showdowns und groß angelegten Spannungs-Crescendi. Die Balance zwischen den beiden Arten der Unterhaltung ist beinahe immer perfekt gehalten, und gerade das ist es, was die Reihe zu etwas Besonderem macht. Neben der außergewöhnlichen Dystopie-Idee, die ihr als Grundlage dient, und mit der sich einiges an gesellschaftskritischem Kommentar und Feminismus sowie auch existenzialistische Philosophie und Spiritualität einbauen lässt (was Vaughan beides zu Genüge umsetzt), geht es um echte Menschen, mit den man mitfühlen und mitfiebern kann - aber auch um zeichnerisch toll umgesetzte und rasant gescriptete Actionsequenzen, die einem den Atem verschlagen können.


So, und das war mein kleiner Rückblick auf Y: The Last Man, eine wirklich eindrucksvolle Comic-Reihe, deren Kohärenz und Ausgefeiltheit im Genre der dystopischen Odysee immer noch ihresgleichen suchen dürfte. Demnächst geht es weiter mit einem Artikel über die immer wieder untergehende und viel zu wenig besprochene Vertigo-Reihe Sweet Tooth weiter; ein Recap, auf den ich mich schon sehr freue.
Bis dahin!

Montag, 6. Februar 2017

Locke & Key: Familiengeschichte mit Extras


Wie schon auf The Sandman, stieß ich auf die Reihe Locke & Key von Joe Hill und dem Illustrator Gabriel Rodríguez durch vorherige positive Erfahrung mit einigen von Hills Prosa-Werken. Ich las, angespornt durch die Tatsache, dass hier (wenn auch unter absichtlich die Herkunft verschleiernden Pseudonym) der von Stephen King ebenfalls sein Glück im Fach des Horrorromans suchte, Heart Shaped Box und NOS4A2 (letzterer Titel eine wunderbare Ver-Autoschildlichung der berühmten Vampirfigur; welche übrigens im Deutschen komplett untergeht, denn dort heißt der Roman zwar ebenfalls sinnvoll in Anbetracht der Handlung, jedoch weitaus weniger cool: Christmasland), und war begeistert von seinem Erzähltalent, ebenso wie von der Tatsache, dass er sich so angenehm vom Stil und den Themen seines Vaters abhob, auch wenn er im gleichen Genre schrieb wie dieser. Stephen Kings Grusel-Epen und seine Mindfuck-Fantasy-Saga rund um den Dunklen Turm sind für immer in mein Herz geschlossen, doch ich erfreute mich sehr an Hills wohlersichtlichen Willen, sich nicht auf den Vorschusslorbeeren rund um seinen berühmten Erzeuger auszuruhen, und seine Lust, eigenständige und neuartige Ansätze zu finden und eifrig zu verwirklichen. Auch wenn mir Horns nicht so sehr gefiel, wie seine anderen beiden Romane, so interessierte mich der Herr doch gut genug, um mich ein wenig auf Internet-Recherche einzulassen und nach nicht allzu langer Zeit auf seine Comic-Arbeiten - und damit großflächig auf Locke & Key - zu stoßen. Zu dieser Zeit hatte ich gerade begonnen, mich mit The Sandman auseinanderzusetzen, und ich setzte mir die Reihe sofort auf meine damals noch nicht heillos überquellende, sondern sehr karge Lese-Liste. Schließlich entschied ich mich dazu, nach dem Ende von The Sandman und noch parallel zum Konsumieren der letzten Story-Arcs von The Dreaming, mit Locke & Key zu beginnen. Nach den Werken von Hill, die mir bis dato bekannt waren, erwartete ich eine wunderbare Gruselreise, einiges an Phantastik und Drama, aber auch Härte und Kalkül. Und ich wurde nicht enttäuscht.


Die Reihe besteht aus 37 Einzelausgaben, die im Verlauf der Jahre 2008 bis 2013 erstmals publiziert wurden. Ich las sie in den zusammenfassenden Sammelbänden, von denen insgesamt sechs Stück erhältlich sind, die jeweils die einzelnen Mini-Serien unter einen Hut (beziehungsweise: zwischen zwei Deckel) bringen. Die Erzählung nimmt ihren Ausgangspunkt im Ableben des Familienoberhaupts der Locke-Familie, Tyler Locke, und folgt den Hinterbliebenen bei ihrem Einzug ins sogenannte "Keyhouse", einem Anwesen, welches sich schon seit langer Zeit in Besitz ihrer Familie befindet. Zu der Trauerbewältigung, die vor allem die Mutter schwer beutelt, gesellen sich die (ganz unterschiedlichen, aber doch gleichenteils als solche zu bezeichnenden) Teenager-Probleme von Kinsey und Tyler... Sowie die ausschlaggebende Entdeckung der magischen Schlüssel durch den sechsjährigen Bode, die viele der weiteren Ereignisse beeinflussen und bestimmen wird. Mit den vielzähligen Schlüsseln, dich sich überall im Haus finden lassen, kann man in die Köpfe von Menschen einsteigen und Erinnerungen stehlen, ersetzen oder verändern, man kann das Geschlecht wechseln oder ganz schnell den Ort, oder man kann temporär als Geist aus seinem eigenen Körper aussteigen und somit sterben, ohne zu sterben. All diese Fähigkeiten, und noch viele mehr, werden den Helden der Familie Locke, die trotz all dessen, was ihnen an Schreckensgestalten und Monstren begegnet durch die Serie hinweg, immer mehr oder weniger zusammenhalten, mehr als zu Gute kommen.
Beginnt man Locke & Key, so wird man durch die etwas ruckelige Exposition der Geschichte vielleicht etwas erschreckt, und gleichfalls in eine nicht ganz richtige Richtung geleitet. Denn auch wenn die Geschehnisse nach der brutalen Ermordung von Bode Lockes Vater ihren Lauf nehmen, und diese Ermordung auch alles andere als unwesentlich für den gesamten Handlungsverlauf ist, ist Locke & Key an erster Stelle ein Familien-Melodram, und erst danach eine Horror-Fantasy-Action-Achterbahnfahrt. Was mir sehr positiv im Gedächtnis geblieben ist, das ist sind die stillen Momente, für die Hill und sein Stammzeichner sich Zeit nehmen, und mit denen sie ihren Charakteren so wunderbare Tiefen geben und die "normale" Handlung so gelungen unterfüttern. Die spannungsgeladenen Story-Arcs, mit denen Locke & Key auffährt, sind gut gemacht und interessant zu lesen, auch gerade aufgrund von Rodríguez eleganten Stil (der hier, anders als bei The Sandman, wo man die Liebe zur Variation positiv herausheben konnte, als wunderbar konsistent und essenziell zusammenhaltend für die gesamte Reihe gelobt werden muss) - doch Locke & Key hat mehr als nur das zu bieten. Es fährt neben dem Magischen und Bösen auch kleine Dinge auf, nach denen man sich wohl erst sehnen würde, wäre die Serie nicht mit ihnen verziert. Die Dynamik zwischen den außergewöhnlichen Charakteren, die die Familie Locke bilden, sowohl die Gesprächsszenarien als auch die Innensichten der Figuren, sowie ein hervorragend ausgearbeiteter Bewohnerkosmos der (nicht ohne Absicht, sondern als sehr direkter Hinweis auf horrorliterarische Vorbilder so benannten) Kleinstadt Lovecraft und schlichtweg passende Nebencharaktere machen die Reihe von einem ziemlich guten Horrorspektakel zu einem charmanten, anspruchsvollen und dramatischen Comic-Genuss.


Und das war meine kleine Rekapitulation zu Locke & Key; einer Reihe, die mir immer als etwas wenn auch nicht als etwas, was sich als "mindblowing" bezeichnen lässt, so doch als etwas Eigenständiges, Andersartiges und Besonderes im Kopf bleiben wird. Im nächsten Post, der noch diese Woche folgt, werde ich mich näher mit Y: The Last Man beschäftigen.
Bis dahin!

Freitag, 3. Februar 2017

The Sandman: Grenzenlose Grundfragen


Neil Gaimans in ihrer Originalfassung 75 Einzelausgaben umspannende Comic-Reihe The Sandman, deren Genre-Ausrichtung man am ehesten mit "Dark Fantasy" umschreiben, der man aber als Leser, Repassierer und Fan am liebsten kein einzelnes verkopftes und schubladisierendes Genre zuordnen will, dürfte auch vielen Menschen ein Begriff sein, die sich nicht viel mit dem Medium Comic auseinandergesetzt haben. Auch meine Wenigkeit, die vor dem Anschaffen und Lesen von Gaimans grandioser Saga kaum Ahnung vom Thema hatte, hatte neben den aus dem Blockbuster-Kino bekannten Marvel- und DC-Helden und vielleicht noch dem auch filmisch stark präsenten Hellboy immer The Sandman mit im Hinterkopf, wenn ich an das Stichwort "Comics" dachte. Irgendetwas musste an diesem anscheinend sehr großen und auch sehr wichtigen Werk besonders sein, und diese Besonderheit faszinierte mich lange Jahre lang, auch wenn ich selten in Erwägung zog, mich wirklich mit der Reihe zu beschäftigen und somit ins Comic-Fach einzusteigen.
In meiner frühen Jugend las ich sehr gerne Terry Pratchetts Scheibenwelt-Romane - und ich meine damit nicht, dass ich einige von ihnen ganz cool fand, sondern ich las wirklich ausnahmslos alle Scheibenwelt-Romane, die verfügbar waren und wurde ein richtiger Fan von Pratchetts humoristischer und eigensinniger Schreibweise. Im Zusammenhang mit Pratchett kam ich auch auf Neil Gaiman, denn nachdem es keine Scheibenwelt-Romane für mich zu erkunden gab, bis irgendwann ein neuer rauskam, nahm ich mir den Kollaborations-Roman Good Omens vor. Und auch von diesem war ich entzückt, denn auch wenn er nicht auf meiner heißgeliebten Scheibenwelt spielte, so war er doch voll von dem wunderbaren Humor, den ich an Pratchett so schätzte, und obendrein schien dieser Neil Gaiman etwas Erwachseneres, aber doch nicht weniger Skurriles mit den in den altbekannten und altbewährten Pratchett-Mix zu packen. Nachfolgend las ich mehrere von Gaimans Romanen, und am liebsten gewann ich American Gods und Neverland, die für mich immer noch zwei grandiose Urban-Fantasy-Romane darstellen. Richtig angefixt wurde ich durch einen Re-Read von Gaimans märchenhaften Roman Stardust, der mich wieder einmal auf den Namen des berühmten Autors und somit auch indirekt auf sein anscheinend ja so herausragendes Comic-Werk stieß... Und dieses Mal nahm ich mir wirklich vor, The Sandman zu lesen, zumindest anzufangen, um zu schauen, was dahinter steckt. Und generell im gleichen Zuge anzutesten, ob das Medium Comic überhaupt etwas für mich ist.
Und was soll ich nun sagen? Das Medium Comic ist definitiv etwas für mich, und ich habe hinreichend verstanden, was Menschen an The Sandman finden und wieso es so ein wichtiges Werk für Comic-Liebhaber geworden ist. Ich sprach bereits von den 75 Ausgaben, die zusammen mit einer später verfassten Graphic Novel und einer noch später verfassten 6-teiligen Vorgeschichte den Grundstock des Sandman-Universums bilden. Nachdem ich diese Ausgaben zusammengefasst in zehn Trade-Paperback-Bände las, befasste ich mich auch mit einem der Sandman-Spin-Offs, doch auf diese Reihe namens The Dreaming und andere fortführende Geschichten aus dem Universum werde ich noch am Ende zu sprechen kommen. Auch wenn The Sandman, welches beim Ablege-Verlag Vertigo von 1989 bis 1993 original publiziert wurde, offiziell im DC-Universum spielt, befinden sich nur wenige Anspielungen auf die bekannten DC-Helden in seinen vielzähligen und vielseitigen Seiten. Die Reihe fungiert relativ autark, was sich für mich als unbelesenen Comic-Anfänger sehr gut anbot und ergab, da ich mit diversen Querverweisen, Referenzen und Auftritten sicher zuweilen meine Schwierigkeit gehabt hätte. So konnte ich The Sandman lesen und meine Liebe für den Comic an sich und für diese Reihe im Speziellen entdecken, ohne in Gefahr zu laufen, in zu große Universen abzutauchen. Wobei man nicht meinen sollte, dass die Welt, in der die Comics spielen eine einfache und wohlüberschaubare ist - The Sandman lebt von der Grenzenlosigkeit seiner Weltenbetrachtung, was zu großen Teilen der übernatürlichen Natur des Hauptcharakters und vieler weiterer wichtigen Charaktere geschuldet ist...
Man merkt an dieser Stelle der Besprechung vielleicht langsam wirklich allzu stark, dass ich mich davor scheue, eine kleine Exposition der Reihe vorzunehmen. Und jeder, der The Sandman gelesen hat, wird mir sicher dabei zustimmen können, dass es wirklich nicht sehr einfach zu beschreiben ist, was in dieser Reihe passiert, und schon beinahe unmöglich, wirklich eine Miniatur-Plot-Zusammenfassung für einen Zweck wie eben diesen Artikel abzusondern. Da ich aber trotz allem nicht drum herum kommen werde, möchte ich es nun so schnell wie möglich hinter mich bringen, und einen der womöglich schwerstzusammenfassbaren Comics der Geschichte der Comics kurz inhaltlich umreißen: In The Sandman geht es um den titelgebenden übersinnlichen und quasi göttlichen Morpheus, der der Herr über die Träume der Menschenwelt ist und diese steuert und verwaltet. Zu Beginn der Serie entflieht Morpheus einer dreißigjährigen Gefangenschaft, und die ganze Reihe erzählt die Geschichten, die sich im Zuge seiner Wiederaufnahme seiner Tätigkeiten als Herr der Träume ereignen. Morpheus, der unter vielen, vielen Namen verkehrt, und dessen wichtigster weiterer Name Dream ist, gehört, wie sich dem Leser mit der Zeit erschließt, zu einer Familie, die zusammengefasst als The Endless operieren und die Welt in ihren Fugen halten. Zu dieser Familie gehören neben Dream Destiny, Death, Delirium, Despair, Destiny und der verschollene Bruder Destruction. Doch worum es in The Sandman neben all der Geschichten rund um diverse Probleme, die sich für Dream und/oder seine Geschwister auftun, eigentlich geht, sind im Grunde menschliche Grundfragen, innere Konflikte und die Wandlungen, die ein Charakter mit der Zeit durchgehen kann. Das Besondere an der Saga ist, dass sie sich nicht ausschließlich um die mal spannenden und wirklich interessanten, mal weniger fesselnden Geschichten dreht, sondern sie lediglich als Vorwand nimmt, um tiefe Charaktereinsichten zu geben, differenzierte Betrachtungen der alten Fragen nach Schuld und Sühne, Liebe und Hass, Ordnung und Unordnung abzuhalten, und dies alles kongenial in die durch Morpheus gegebene Traum-Thematik einzubinden. Wenn Gaiman selbst dazu gefragt wird, was er an The Sandman am Gelungensten findet, dann verweist er auf die "little moments", in denen es eben nicht um die große epische Handlung geht, sondern um Auseinandersetzung mit sozialkritischen und metaphysischen,  tiefenpsychologischen und spirituellen Fragen und Charakterentwicklungen auf subtilstem Level.


Dass sich Gaiman für eine Reihe, die eben solche grenzenlosen Grundfragen der menschlichen Existenz beleuchten, betrachten und besprechen soll, gerade die übersinnliche Figur des Herrn der Träume ausgesucht hat, ist kein Zufall. Denn auch wenn die Träume eines jeden Menschen differieren, so ist es für sie doch alle gleich, dass sie die Welt und die Gedanken, gar das ganze Leben des Träumers nicht nur schmücken und verschönern, sondern auch belasten und erschüttern können - und mit egal welchen ihrer Funktionen stets irgendeine Art von Einfluss auf den Träumer und seinen Charakter haben, ob er will oder nicht. Auch ist es sehr interessant, wie Gaiman sich der Charakterentwicklung und der signifikanten Veränderung nicht irgendeines Menschen, sondern der ewigen und über fast allem stehenden Figur Dream annimmt, und so aufzeigt, dass sogar ein Wesen, welches einer Gottheit nicht unähnlich ist, ins Zweifeln kommen kann über diverse Dinge, sich zuweilen unwohl fühlen kann in seiner Position und auch für eine solche Entität nicht immer alles großartig und funktionell verläuft.
The Sandman hat für mich als Leser vor allem deswegen so gut funktioniert, weil mir die Reihe (auch wenn ich manche Plots spannender fand als andere, und mir die One-Shot-Kurzgeschichten, die Gaiman immer wieder im Verlauf der Saga unterbringt und neben große zusammenhängende Geschichten wie meine beiden liebsten Story-Arcs Brief Lives und das wirklich unglaublich epische The Kindly Ones stellt, nicht so sehr lagen wie ebenjene großen Brüder) fortlaufend tolle Charaktere und interessante Innensichten gab. Außerdem begeisterte mich von Anfang an Gaimans ausgeklügelte und für das Comic-Format wirklich überdurchschnittlich literarische und poetische Sprache, mit der er die Geschichten rund um Morpheus erzählt - auch wenn Gaiman selbst zugibt, dass die Ausgaben der Reihe, der sich heute in der Regel im ersten Sammelband Preludes and Nocturnes finden lassen, ihm gerade sprachlich und auch strukturell ein bisschen peinlich geworden sind und er sie als nicht gerade gelungene Selbstfindungsphase im Sandman-Universum klassifiziert, ich war von den ersten Seiten an gefesselt und wollte nicht mehr aus der großen Reise aussteigen, bis ich am Ende vom wirklich gelungenen Finalband The Wake ankam.


Nicht unerwähnt lassen möchte ich neben all den inhaltlichen Diensten den stilistischen Dienst lassen, den The Sandman mir getan hat. Denn als kompletter Neuling im Medium Comic wurde ich in dieser Reihe über eine Spanne von 75 Issues und sowie additionale Graphic Novel und die grandios gezeichnete Overture-Reihe, die eine Vorgeschichte zu den ersten Geschehnissen im Debütband zeigt, mit einer unermesslichen Fülle an verschiedenen Zeichenstilen und Varianten der Comic-Darstellung konfrontiert. Und auch, wenn es mich zunächst etwas schockierte und es auch nicht wirklich direkt einfach für mich war, zu begreifen und zu akzeptieren, dass Gaiman für The Sandman immer wieder mit den verschiedensten Illustratoren und Zeichnern zusammenarbeitete und somit eine Reihe kreierte, die zwar in ihrer Handlung kohärent und passend ist, aber in ihrer Darstellung immer wieder stark differiert und sich inszenatorisch ständig neu erfindet - am Ende kann ich sagen, dass sich diese Erfahrung für meine weiteren Reisen in die Welt der Comics, die nun zum Regelfall geworden sind, durchaus gelohnt hat. Auch kann ich nicht umher zu sagen, dass egal auf welche Art und Weise die Sandman-Geschichten gerade in den diversen Heften dargestellt werden, sie immer wirklich gekonnt und mit versiertem Eifer dargestellt sind. Mir ist kein Stil in der Stilfülle der Reihe untergekommen, mit dem ich überhaupt nichts anfangen konnte und er mich komplett rausgeworfen hat. 


Zu guter Letzt möchte ich noch auf die Spin-Offs gehen, die von der Sandman-Saga ausgehen, und mit denen ich mich auch teilweise bereits beschäftigt habe oder noch gedenke, mich zu beschäftigen. Zunächst wäre da das sehr abgegrenzte Lucifer, welches den Höllenverwalter weiterverfolgt, wie er nach dem Kündigen seines Amtes in The Sandman eine Bar in Kalifornien eröffnet und diverse Abenteuer erlebt. Lucifer ist auch der Charakter der Reihe, der sich am ehesten in anderen DC-Werken als Nebencharakter in einigen Storylines wiederfinden lässt. Mein Interesse an Lucifer ist nicht sonderlich hoch, doch irgendwann werde ich mich sicher mal mit der Reihe befassen. Nicht aber, weil sie unbedingt die Sandman-Verbindung hat, sondern einfach, weil sie für sich allein wie eine interessante Comic-Erfahrung klingt. 
Sandman Mystery Theatre, welches sich in meinem Besitz befindet und ich gedenke, in nicht allzu ferner Zeit anzugehen, ist eine Rückbesinnung auf die Figur Wesley Dodds, welcher vor Morpheus ein DC-Charakter war, der als Sandman auftrat, und somit eine Neuerzählung der 1930er-Comics im einem Stil, der an den Film Noir angelehnt ist. Die Reihe klang meiner Meinung nach sehr ansprechend, und es wird in ihrem Verlauf wohl auch einige Treffen mit Morpheus und Co. geben, was für mich ein großer Anreiz zum Lesen ist.
Neben etlichen Mini-Serien über einige der Endless-Geschwister gibt es noch eine weitere große Spin-Off-Reihe, und diese ist das im Anschluss an The Sandman komplett von mir gelesene The Dreaming, über welches ich jetzt noch etwas genauer sprechen will. Denn es gibt durchaus einige Sachen zu verlieren über diese Reihe, die sich mit den Geschehnissen in den unendlichen Weiten des Traumlandes unter Morpheus' Kontrolle befasst, wenn der Meister gerade einmal zu anderen Sphären aufgebrochen ist. Diese wenn auch recht schlichte, doch wirklich geniale Idee wird zwar nicht komplett verschenkt, doch denke ich, dass man durchaus mehr aus The Dreaming hätte machen können. Positiv zu bemerken ist, dass es wie bei The Sandman ein ständig rotierendes Zeichnerkollektiv gab, und so sehen alle kleinen Story-Arcs sehr eigenständig und immer wieder neu und aufregend aus. Eine gute Entscheidung war es auch, sich nach etwa einem Drittel des 60 Ausgaben umfassenden Laufes der Serie einer Kompletterneuerung zu unterziehen und vom recht belanglosen, wenn auch meist ein Mindestmaß an Unterhaltung bietenden Anthologie-Format hin zu einer kohärenten Geschichte mit weniger Hauptcharakteren zu evolvieren. Doch die Charaktere der Reihe konnten mich nie so sehr interessieren wie die von The Sandman selbst, und sie wurden mir durch ihr teilweise wirklich exzessiv vollzogenes Breittreten und Ausbauen und Umbauen in The Dreaming sogar für ihre gesamte Existenz im Sandman-Universum... Naja, wollen wir mal nicht sagen "zerstört", aber doch wurde der Spaß an ihnen und die Neugier auf sie herbe beeinträchtigt und teilweise sogar komplett zerschlagen. Ich kann verstehen, wenn man als Leser der Hauptreihe Lust hat, sich The Dreaming zuzuwenden, und ich will es auch nicht zur schlechtesten Comic-Reihe überhaupt degradieren, doch ich kann sie Fans der Gaiman-Comics ehrlich nicht guten Gewissens ans Herz legen. Es lohnt sich vielleicht, einen kurzen Blick auf die ersten Ausgaben zu werfen, und vielleicht gibt es ja auch Leute, die viel besser mit der Reihe klarkommen als ich und sich komplett in ihr zu Hause fühlen können - für mich war The Dreaming nichts, und ich habe es eigentlich nur zu Ende gelesen, da ich mich bereits in der sich immer weiterentwickelnden großen Handlung steckte, nicht mehr im Anthologie-Part der Serie herumdümpelte und deshalb wenigstens das Ende all der mehr oder weniger egalen Ereignisse erfahren wollte. 


The Sandman hat mich stark begeistert, beeinflusst und geprägt. Die Reihe wird für immer einen speziellen Platz in meinem Herzen haben, und ich möchte sie desweiteren in den nächsten Monaten einem Re-Read unterziehen, um noch tiefer in ihre Philosophie und ihre Magie einzutauchen, als es mir beim ersten Mal ob der Neuheit und Ungewohntheit möglich war. Ich bin sehr froh, den Einstieg in die Comic-Welt gewagt zu haben, und ich bin unendlich froh, ihn mit dieser unvergleichlichen und ganz besonderen Saga gewagt zu haben. 

Wir lesen uns in diesem Blog dann bald wieder zu einer (der Reihe geschuldet wohl wahrscheinlich etwas weniger ausführlichen) Besprechung von Joe Hills Locke & Key.
Bis dahin!